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Selma Stern

Über Selma Stern (24. Juli 1890, Kippenheim - 17. August 1981, Riehen/Schweiz)

von Dr. Marina Sassenberg

Die Grande Dame der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung war eine der ersten Historikerinnen mit akademischer Ausbildung in Deutschland, die erste Frau in der Wissenschaft des Judentums. Im Mittelpunkt ihres Werks stehen die Emanzipation und Akkulturation der deutschen Juden. Mit einer siebenbändigen Dokumentation zur Geschichte der preußischen Juden, einem Standardwerk zum europäischen Hofjudentum, Biographien über Jud Süß und Josel von Rosheim hat sie die deutsch-jüdische Geschichtswissenschaft nachhaltig beeinflusst. 

Es ist ein guter Start ins Leben, in dieser Kleinstadt im südlichen Baden: Selma Stern wächst dort als zweites von vier Kindern im Milieu einer aufstiegsorientierten, akkulturierten jüdischen Bürgerschicht heran. Die Eltern, der Arzt Julius Stern (1861-1908) und Emilie geb. Durlacher (1863-1931), fördern frühzeitig die intellektuelle Begabung ihrer Tochter. Vor allem der Vater stärkt das  Selbstbewusstsein des Kindes und befürwortet den Wechsel von der Höheren Töchterschule zum Knabengymnasium in Baden-Baden. Auf die traumatische Erfahrung seines unerwarteten Todes im Jahr 1908 reagiert die Schülerin mit verstärkter Arbeit: 1909 macht sie als Jahrgangsbeste Abitur und beginnt ein Studium der Philologie und Geschichte in Heidelberg. Kurz darauf wechselt sie an die Münchener Ludwig-Maximilians-Universität, wo sie 1913 ihr Studium „summa cum laude“ mit einer Dissertation über Anacharsis Cloots, einen rheinischen Adeligen in der Französischen Revolution,abschließt. Der folgende Schritt einer klassischen akademischen Karriere, die Habilitation, scheitert an den verkrusteten (männlichen) Wissenschaftsstrukturen wie auch an den Erschütterungen des Ersten Weltkriegs. Sterns anfänglich emphatischer Patriotismus weicht schrittweise der Ernüchterung, dem Entsetzen, der Depression. Beruflich ist ihre Situation prekär - eine biographische Auftragsarbeit über den Welfenherzog Karl Wilhelm Ferdinandreicht nicht zur Finanzierung des eigenen Lebensunterhalts. 

In dieser Phase lebensgeschichtlicher Erosion begegnet sie dem Althistoriker und Leiter der Berliner Akademie für die Wissenschaft des JudentumsEugen Täubler (1879-1953). Er gewinnt „das junge Fräulein Doktor“ für die Mitarbeit an der neuen Einrichtung. An der Akademie reüssiert Stern zunächst mit dem ersten Band ihres Opus magnum über den preußischen Staat und die Juden, später mit einer Biographie über Jud Süß. In der Zwischenzeit bauen Stern und Täubler nicht nur akademische Nähe auf. Das Paar heiratet 1927 und zieht nach Heidelberg, wo Täubler eine ordentliche Professur annimmt und Stern für die Akademie den zweiten Band der Preußen-Reihe bearbeitet. An der Seite des Gatten, Lehrers und Mentors, im intellektuellen Umfeld der Heidelberger Hochschule und umgeben von einer reizvollen Kulturlandschaft lässt sich für kurze Zeit Sterns komplexes Ideal einer inter- und transdisziplinären Wissenschaft als Folie für beruflichen Erfolg und privates Glück realisieren. 

Umso tiefer trifft der Schock des Jahres 1933. Nach der Schließung der Akademie kann Täubler in Berlin noch eine Zeitlang an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums unterrichten, Stern beendet dank der Fürsprache durch Leo Baeck, den Vorsitzenden der Reichsvertretung der deutschen Juden, den zweiten Band der Preußen-Reihe. Das noch 1938 im Schocken Verlag gedruckte Buch kommt jedoch nicht mehr zur Auslieferung, sondern wird von den Nationalsozialisten beschlagnahmt.
Die Materialien für den geplanten dritten Teil und das Manuskript für eine Geschichte der Hofjuden an europäischen Fürstenhöfen nimmt Stern 1941 mit ins amerikanische Exil, nach  Cincinnati, Ohio. Wissenschaftlich findet sie dort keinen Anschluss, dennoch schreibt sie: für sich, nicht mehr für ein akademisches Publikum. The Spirit Returneth (1946), eine historische Parabel vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Pestverfolgungen am Oberrhein, ist literarische Trauerarbeit und ermöglicht zugleich den Wiedereinstieg in die Wissenschaft, als Archivarin im Hebrew Union College(1947 bis 1955) wie als freie Historikerin mit The Court Jew(1950). Die Trauer um Eugen Täubler nach dessen Tod 1953 markiert erneut den Beginn einer intensiven Schaffensphase: seit 1954 beteiligt sich Selma Stern am Aufbau des Leo Baeck Instituts, das sich zur weltweit bedeutendsten Sammel- und Forschungsstelle zur deutsch-jüdischen Geschichte entwickelt. Für ihren „herausragenden Beitrag zu Religion, Kultur und bürgerlichem Leben“, wie es in der Laudatio heißt, erhält sie 1955 den Ehrendoktortitel des Hebrew Union College. Wenig später legt sie mitJosel von Rosheim ihre erste und einzige Arbeit zur Thematik christlich-jüdischer Beziehungen vor. Recherchen dazu führen sie ins Elsass und werfen Fragen nach einer Übersiedlung auf - eine Rückkehr ins Nachkriegsdeutschland ist für sie nicht mehr denkbar. Stern zieht 1960 in die Schweiz, zunächst nach Basel, später ins nahegelegene Riehen. Unter größter physischer Anstrengung vollendet sie dort 1975 den letzten Band ihrer Preußen-Reihe. Die Fertigstellung des Werks versteht die Historikerin als letzten wissenschaftlichen und persönlichen Auftrag, ein bleibendes Zeugnis deutsch-jüdischer Existenz zu überliefern und damit, wie sie schreibt, eine „Grundlage zu späterer deutsch-jüdischer Geschichtsforschung.“[1]

Hauptwerke

Anacharsis Cloots, der Redner des Menschengeschlechts. Ein Beitrag zur Geschichte der Deutschen in der französischen Revolution, Berlin 1914 (ND: Nendeln 1965)

Karl Wilhelm Ferdinand Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, Hildesheim/Leipzig 1921.

Jud Süß. Ein Beitrag zur deutschen und zur jüdischen Geschichte, Berlin 1929. (ND: München 1973) 

The Spirit Returneth. A Novel, Philadelphia 1946. (Dt.: Ihr seid meine Zeugen. Ein Novellenkranz aus der Zeit des Schwarzen Todes 1348/49, München 1972). 

The Court Jew. A Contribution to the History of the Period of Absolutism in Central Europe, The Jewish Publication Society, Philadelphia 1950 (ND: Transaction Books, New Brunswick, N.J. 1985; Dt.: Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus. Ein Beitrag zur europäischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert. Aus dem Englischen übertragen, kommentiert und herausgegeben von Marina Sassenberg, Tübingen 2001).

Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, Stuttgart 1959. (Engl.: Josel of Rosheim, Commander of Jewry in the Holy Roman Empire of the German Nation, translated by Gertrude Hirschler, The Jewish Publication Society, Philadelphia 1965]

Der Preußische Staat und die Juden, Bd. 1: Berlin 1925, Bd. 2: Berlin 1938; 3 Teile in 7 Bänden, Tübingen 1962-1975. 4. Teil, Gesamtregister zu den sieben Bänden der Teile 1-3, hg. von Max Kreutzberger, Tübingen 1975.

 

 

 


[1]Stern an den befreundeten Historiker Willy Andreas am 21. März 1959