Jewish Homosexual Modernism in the German Speaking World and in Mandatory Palestine/Israel
Judentum und Homosexualität in der literarischen Moderne (1890-1933)
„[W]ir betrachteten uns als ‚anders‘, als Mitglieder einer internationalen Avantgarde.“ So erinnert sich die Ärztin und Sexualwissenschaftlerin Charlotte Wolff an ihr Leben in den 1920er Jahren in Berlin. Bis zu ihrer Emigration 1933 frequentierte sie jüdische Intellektuellenkreise, tauchte in das lesbische Leben Berlins ein und veröffentlichte einige Gedichte. Als Lyrikerin ist Charlotte Wolff Teil eines jüdisch-homosexuellen Kanons der literarischen Moderne, der sich zwischen 1890 und 1933 in Berlin herausbildete.
Die Rekonstruktion dieses Kanons ist Ziel eines neuen Drittmittelprojekts an der Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität, die am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelt ist. Unter dem Titel Jewish Homosexual Modernism in the German Speaking World and in Mandatory Palestine/Israel (1890-1933) nehmen wir literarische Texte in den Blick, die Vorstellungen von Homosexualität und Judentum gemeinsam verhandeln. Das Forschungsvorhaben ist eine Kooperation mit der Hebräischen Universität Jerusalem und wird von der Berliner Einstein-Stiftung finanziell gefördert.
Die jüdisch-homosexuelle Moderne
In der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelte sich Berlin zum Zentrum der ersten homosexuellen Emanzipationsbewegung im deutschsprachigen Raum. Einer ihrer Protagonist*innen war der jüdische Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, der als Gründer des Wissenschaftlich-humanitären Komiteessowie des Berliner Instituts für Sexualwissenschaft für die Rechte von Lesben, Schwulen und Trans*-Personen eintrat. Zugleich formierte sich eine überaus lebendige homosexuelle Club-, Vereins- und Verlagsszene. Besonders die Jahre der Weimarer Republik (1918-1933) boten in dieser Hinsicht neue Freiräume. Hirschfeld und viele andere setzten sich für die Streichung des Paragraphen 175 ein, der sexuelle Handlungen zwischen Männern kriminalisierte und auf Frauen ausgeweitet zu werden drohte. Eine weitgehende Abschaffung der Zensur ermöglichte die Herausbildung eines diversen Zeitschriftenmarktes, der sich explizit an eine homosexuelle und – in weitaus geringerem Maße – an eine trans*-idente Leser*innenschaft richtet.
Sowohl die deutschsprachige jüdische Literatur als auch die deutschsprachige Literatur von Lesben und Schwulen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung waren bereits Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung, doch wurden sie bislang selten gemeinsamals Teil der literarischen Moderne betrachtet. Unser Fokus liegt daher auf literarischen Diskursen, die Vorstellungen von Judentum und Homosexualität entwerfen und miteinander verschränken, er zielt auf ihre Gemeinsamkeiten, Überschneidungen und ästhetischen Dimensionen. Dazu gehört auch die Frage, wie sich Homophobie, Antisemitismus und Misogynie diskursiv überlagern, und die Einsicht, dass Teile der männlichen homosexuellen Emanzipationsbewegung nicht frei von Antisemitismus und Misogynie waren. Für das Forschungsprojekt ergeben sich folgende Fragen: Welche Motive und Topoi prägen die Ästhetik der jüdisch-homosexuellen Moderne? Welche Autor*innen formen einen jüdisch-homosexuellen Kanon? In welchem Verhältnis stehen Produktion, Publikation und Rezeption zueinander, gab es beispielsweise bevorzugte Veröffentlichungsmedien?
Auf der Suche nach einem neuen Kanon
Gegenstand unserer Forschung sind sowohl kanonische Autor*innen wie Franz Kafka, Else Lasker-Schüler und Stefan Zweig als auch solche Autor*innen, die von der literaturwissenschaftliche Forschung noch nicht beachtet wurden. Auf diese Weise soll es gelingen, einen literarischen Kanon der jüdisch-homosexuellen Moderne zu rekonstruieren, der bisher kaum Beachtung gefunden hat. Entscheidend ist nicht, ob ein*e Autor*in sich selbst als jüdisch und/oder homosexuell identifizierte. Ein biografischer Zusammenhang, wie er im Falle der lesbischen Jüdin Charlotte Wolff besteht, ist keine Vorbedingung für unser Forschungsinteresse. Entscheidend ist vielmehr, ob in einem literarischen Text Motive, Narrative oder Strukturen vorliegen, die Judentum und Homosexualität miteinander in Verbindung setzen.
Hans Mayer, selbst jüdisch und homosexuell, befasste sich in seiner Monographie Außenseiter(1975) mit den offensichtlichen Parallelen zwischen Antisemitismus und Homophobie in der europäischen Literatur. Er differenziert zwischen intentionalen und existentiellen Außenseitern und rechnet sowohl Jüd*innen als auch Homosexuelle als zur zweiten Kategorie. Mayers Analyse des öffentlich ausgetragenen Streits zwischen August von Platen und Heinrich Heine ist ein gutes Beispiel dafür, in welcher Weise sich beide Vorurteilsstrukturen miteinander verschränken. Auch der Historiker Georg L. Mosse entwickelte in seiner Monographie Nationalism and Sexuality. Middle-Class Morality and Sexual Norms in Modern Europe(1985) einen systematischen Vergleich von Antisemitismus und Homophobie, indem er die städtischen Repräsentationen von Jüd*innen und Homosexuellen im europäischen Kulturraum untersuchte. Für unser literaturwissenschaftlich ausgerichtetes Projekt ist insbesondere der Ansatz von Eve Kosofsky Sedgwick produkiv. Nach Sedgwick bestimmen heteronormative Regeln, was Eingang in den literarischen Kanon findet – also in einen Bestand von Werken, die als Höhenkamm einer Epoche angesehen werden. Daneben gibt es auch einen kleineren – in der literaturwissenschaftlichen Forschung meist vernachlässigten – Kanon, der Autor*innen, Verlage und Zeitschriften umfasst, die sich als homosexuell verstehen oder als homosexuell verstanden werden. Es gibt Überschneidungen, denn Texte des heteronormativen Kanons können zugleich Teil des homosexuellen Kanons werden, wenn sie mithilfe der Methode des Queer Readings gelesen und so ihre homosozialen, homoerotischen und homosexuellen Tendenzen sichtbar gemacht werden. Ähnliches gilt für die Frage nach der deutschsprachigen jüdischen Literatur. Auch in ihrem Fall sollen nicht nur jüdische Autor*innen einbezogen werden, sondern auch solche, die sich mit jüdischen Themen befassen oder als jüdisch wahrgenommen werden.
Ein Beispiel ist der Schriftsteller Thomas Mann, der sich weder als jüdisch noch als homosexuell identifizierte. Er war mit Katja Pringsheim verheiratet, die aus einer jüdischen Familie stammte; und nur in seinen Tagebüchern brachte er sein homosexuelles Begehren zum Ausdruck. Seine Novelle Tod in Venediggehört zweifelsfrei sowohl zum heteronormativen wie auch zum homosexuellen Kanon; und während sein Frühwerk vielfach antisemitische Stereotypen zitiert, lässt sich sein vierbändiges Romanwerk Joseph und seine Brüderals Hommage an das Judentum und zugleich als Antwort auf zeitgenössische Vorstellungen von der Vielfalt der Geschlechter und des Begehrens lesen.
Gender als Differenzkategorie
Die homosexuelle Emanzipationsbewegung des Kaiserreichs und der Weimarer Republik spiegelte nicht das gesamte Spektrum der Lebensrealitäten von Lesben und Schwulen, denn deren Möglichkeiten zur Vernetzung sowie zur politischen Teilhabe und Sichtbarkeit unterschieden sich sehr. Auch wenn sich Magnus Hirschfeld als Sexualwissenschaftler sowohl mit männlicher als auch mit weiblicher Homosexualität auseinandersetzte, bemühte er sich als politischer Aktivist im Rahmen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees vor allem um die Abschaffung des § 175, der nur Männer betraf. In den bis 1933 zahlreichen homosexuellen Vereinen waren nur wenige lesbische Frauen Mitglied. Ein ähnliches Bild bieten die Zeitschriften. Es gab weitaus mehr – zum Teil sehr kurzlebige – Zeitschriften, die sich an ein männliches homosexuelles Publikum richteten, und selbst Zeitschriften für eine weibliche Leserinnen*schaft wurden in der Regel von männlich dominierten Redaktionen erstellt und von Männern herausgegeben. Zudem ermöglichten das Kaiserreich und die Weimarer Republik als patriarchalisch verfasste Gesellschaften aufgrund (hetero)normativer Rollenerwartungen Frauen* weitaus weniger Freiraum in der individuellen Lebensgestaltung als Männern.
Geschlecht war in den zeitgenössischen Konzeptionen nicht nur der Homosexualität, sondern auch des Judentums eine entscheidende Differenzkategorie. Antisemitische Autor*innen schrieben dem Judentum und Jüd*innen eine grundsätzliche Tendenz zu Effemination und Feminität zu, wobei jüdische Frauen häufig mit stark maskulinen Zügen imaginiert wurden. Teile der zionistischen Bewegung sowie einige jüdische Autor*innen, die sich der Modernisierung des Judentums verschrieben hatten, entwickelten ebenfalls, möglicherweise als Antwort auf den Antisemitismus, das Konzept einer Re-Maskulinisierung des Judentums und der im Exil befindlichen Juden.
Homophobe und antisemitische Diskurse weisen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit hinsichtlich ihre geschlechtlichen Deutung und Prägung auf. Die Analyse des literarischen Kanons der jüdisch-homosexuellen Moderne muss also stets die Kategorie Gender miteinbeziehen.
Deutsch, Hebräisch, Jiddisch
Die Literatur der deutschen Moderne übte einen Einfluss auf die moderne hebräische Literatur aus, doch hatte die moderne hebräische Literatur ihrerseits Anteil an der Entstehung und Verbreitung eines jüdisch-homosexuellen Kanons der Moderne. Im Untersuchungszeitraum von 1890 bis 1933 war der deutschsprachige Kulturraum ein wichtiger Bezugspunkt für hebräische Literatur. Zahlreiche hebräisch schreibende Autor*innen hielten sich für längere Zeit in Berlin oder Wien auf, und die führende Zeitschrift für hebräische Literatur, Hashiloah, wurde in Berlin verlegt. Unter der Leitung von Tamar Hess und Moshe Sluhovsky von der Hebräischen Universität Jerusalem nimmt die israelische Seite des Kooperationsprojekts daher auch literarische Texte des Yishuv in den Fokus. Dieser „doppelte Blick“ auf deutschsprachige, hebräische und jiddische Literatur im deutschsprachigen Kulturraum und im Yishuv soll es ermöglichen, Überschneidungen, Verbindungen und wechselseitige Einflüsse dieser Literaturen und ihren jeweiligen Beitrag zur Entstehung eines jüdisch-homosexuellen Kanons der literarischen Moderne zu identifizieren.
Janin Afken widmet sich in ihrem Teilprojekt Figurationen, Motiven und Topoi, in denen sich lesbisch-feministische Diskurse mit jüdischen treffen und verbinden. Sie unternimmt zum einen ein Queer-Reading bereits bekannter Werke von Autorinnen wie Vicki Baum oder Irmgard Keun und richtet ihren Blick zum anderen auf Texte vergessener und wiederentdeckter Autorinnen wie Maria Lazar, Corinna Brachvogel, El Hor und Bess Brenck-Kalischer. Auch lesbische Zeitschriften wie Die Freundin, Frauenliebeoder Garçonnesowie jüdische Zeitschriften werden Gegenstand ihrer Forschung sein. Zeitschriften und Periodika stehen auch im Zentrum von Liesa Hellmanns Dissertationsvorhaben. Sie analysiert literarische Texte aus jüdischen Zeitschriften wie Ost und West,Die Wahrheitund Allgemeine Zeitung des Judentumsund aus homosexuellen Zeitschriften, die auf ein hauptsächlich männliches Publikum zielten, wie Der Eigene, Das Freundschaftsblattund Die Insel. Leitfrage ist dabei, wie in den Texten Vorstellungen von Diaspora entworfen werden und inwiefern sich homosexuelle und jüdische Konzeptionen überschneiden, beeinflussen oder sich womöglich in einem spezifisch queer-jüdischen Diasporakonzept vereinigen. Andreas Kraß setzt bei dem bereits etablierten Kanon der literarischen Moderne an und untersucht die Werke Thomas Manns, insbesondere sein zwischen 1933 und 1944 erschienenes Romanwerk Joseph und seine Brüder, unter dem Gesichtspunkt der Verschränkung jüdischer und sexueller Diskurse. So lässt sich die Figur des jungen Joseph als jüdisch markierte Projektionsfläche für zeitgenössische Vorstellungen vom „dritten Geschlecht“ lesen, die von einem Begehren jenseits der Heteronormativität zeugen.
Weiterführende Literatur:
Benjamin Maria Baader, Sharon Gillermann, Paul Lerner (Hrsg.): Jewish Masculinities: German Jews, Gender, and History. Bloomington, Ind, 2012.
Christina von Braun (Hrsg.): Was war deutsches Judentum 1870 – 1933. Berlin u.a. 2015.
Heinrich Detering: Juden, Frauen und Litteraten. Zu einer Denkfigur beim jungen Thomas Mann. Frankfurt am Main 2005.
Kirsten Heinsohn, Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.): Deutsch-Jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2006.
Yahya Elsaghe: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das “Deutsche”. München 2000.
– Thomas Mann und die kleinen Unterschiede. Zur erzählerischen Imagination des Anderen. Cologne u.a. 2004.
Andreas Kraß, Moshe Sluhovsky, Yuval Yonai (Hgg.), Queer Jewish Lives Between Central Europe and Mandatory Palestine: Biographies and Geographies, 1870-1960. Bielefeld 2020.
Eve Kosofsky Sedgwick: Epistemology of the Closet. Berkeley/Los Angeles 1990.
Inge Stephan, Sabine Schilling, Sigrid Weigel (Hrsg.): Jüdische Kultur und Weiblichkeit in der Moderne. Köln u.a. 1994.
Kurzbios
Janin Afken studierte Deutsche Literatur und Gender Studies an der Humboldt- Universität zu Berlin. Ihre Doktorarbeit befasst sich mit Lesbischen* Eigenzeiten in der feministisch-lesbischen* Literatur der 1970er Jahre im geteilten Deutschland. Sie arbeitet seit 2016 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle der Kulturgeschichte der Sexualität an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Rahmen des Projektes Cruising the 1970s: Unearthing Pre-HIV/AIDS Queer Sexual Cultures (CRSUEV)hat Janin Afken gemeinsam mit Benedikt Wolf den Sammelband Sexual Culture in Germany in the 1970s. A Golden Age for Queers?(Macmillan 2019) veröffentlicht. Sie produzierte zudem zusammen mit dem queer-feministischen Filmkollektiv TINT einen Dokumentarfilm zur lesbisch subkulturellen Institution Pelze Multimedia, der in Kürze auf dem Portal des Digitalen Deutschen Frauenarchivs veröffentlicht wird.
Liesa Hellmann studierte Deutsche Literatur und Gender Studies im Bachelor sowie Deutsche Literatur im Master an der Humboldt-Universität zu Berlin. Während ihres Studiums arbeitete sie an der Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität am Aufbau eines Archives zur Kulturgeschichte von HIV und Aids. Nach einem journalistischen Volontariat bei einer Tageszeitung kehrte sie 2020 für ihre Dissertation an die Forschungsstelle zurück.
Andreas Kraß ist seit 2012 Professor für deutsche Literatur des Mittelalters an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2004 bis 2012 lehrte er an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. 2012 gründete er die drittmittelfinanzierte Forschungsstelle für Kulturgeschichte der Sexualität. Aktuelle Buchpublikationen: Queer Jewish Lives Between Central Europe and Mandatory Palestine. Biographies and Geographies 1870-1960, Bielefeld 2020 (Mithg.); Sarah Rappeport, Die Jüdin von Cherut, Berlin/Leipzig 2020 (Mithg.).