Traditionen jüdischer Diasporapolitik im 20. Jahrhundert
Im Rahmen der Forschungsgruppe wird in vergleichender Perspektive die Entstehung und Entwicklung moderner jüdischer Politik und Teilhabe an den europäischen und außereuropäischen politischen Kulturen rekonstruiert und analysiert. Vor dem Hintergrund der Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse, die die europäischen Juden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert durchlaufen haben, stehen dabei die unterschiedlichen Aktionsformen und Handlungsräumen von Juden im Bereich des Politischen im Zentrum. Ihre diasporische Kondition dient als Ausgangspunkt für eine Befragung geltender politischer Terminologien im Zeitalter der nationalstaatlichen Moderne.
Drei Themenbereiche sind dabei von besonderem Interesse:
Pluralisierung jüdischer Selbstverständnisse in der Moderne:
Grundlage unseres Nachdenkens ist die Entstehung ganz unterschiedlicher jüdischer Selbstverständnisse im Gefolge einer Transformation des vormodernen Judentums und dessen Begegnung mit der Moderne. Im Westen, im Gefolge der Französischen Revolution, waren Juden der Emanzipation zu citoyen, zu Staatsbürgern geworden, die ihre religiöse Zugehörigkeit internalisiert und konfessionalisiert hatten. Anders in den von ethnischen Zerklüftungen geprägten Imperien des östlichen Europas: hier zeichnete auch die jüdische Existenz eine nationale Prägung und mündete in die Forderung nach Kollektiv- bzw. Minderheitenrechten. Diese europäische Perspektive weitet sich im Rahmen unserer Forschungsgruppe durch den Blick nach Mexiko und die Geschichte des Comité Central Israelita de México, wo sich ganz unterschiedliche Traditions- und Selbstverständnisse aus Europa aber auch dem Nahen Osten begegneten. Anders gestalten sich die Verhältnisse wiederum rückt man die Sowjetunion ins Zentrum der Aufmerksamkeit: hier tritt die Kollektivutopie des Kommunismus in den Vordergrund, die mit ihrem Versprechen der Neutralisierung von Herkunftskonflikten, wenn nicht gar der Überwindung von Herkunft zumindest in ihren Anfängen für Juden attraktiv wurde.
Institutionen und Netzwerke:
Transnationale Institutionen und Netzwerke, mit denen sich Juden in der Moderne für ihre Interessen, gegenseitige Unterstützung und politische Teilhabe eingesetzt haben, bilden allein schon wegen ihrer transterritorialen Existenz ein wesentliches Moment der Ausbildung und Gestaltung jüdischer politischer Kultur. Anhand der Geschichte von Organisationen wie der 1860 gegründeten Alliance Israélite Universelle oder dem 1936 einberufenen World Jewish Congress wird das jüdische Engagement in Form einer nicht-staatlichen jüdischen Diplomatie hervorgehoben. Dabei sollen deren Handlungsräume und -formen in einer nationalstaatlich organisierten Welt ausgelotet und deren frühe und innovative Formen transterritorialer Kommunikation, Solidarität und Vernetzung herausgestellt werden. So mag es auch nicht verwunden, dass sich gerade auf dieser Ebene unmittelbare Überschneidungen in den Einzelprojekten unserer Forschungsgruppe zeigen: etwa am Beispiel des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, das 1941 in der Sowjetunion gegründet wurde, mit dem World Jewish Congress verbunden war und dessen Vertreter im Rahmen ihres weltweiten Werbens um Unterstützung 1943 auch in Mexiko beim dortigen Comité Central Israelita de México Halt machten.
Wirkung des Holocaust:
Der dritte Themenbereich, der Gegenstand der Auseinandersetzungen unserer Forschungsgruppe ist, kreist um die Wirkung, die die Katastrophe des Holocaust auf das jüdische Selbstverständnis genommen hat. Dabei wird die Frage ins Zentrum gerückt, inwiefern die Erfahrung des ultimativen Genozids – einer Vernichtung, die auf alle Juden überall zielte –, zugleich ein neues Kollektivbewusstsein der Juden nach sich gezogen hat. Im Kontext einer Auseinandersetzung mit der Geschichte jüdischer Diasporapolitik in der Moderne interessieren dabei einerseits auf deren veränderte Bedingungen, denen sie nach dem Holocaust ausgesetzt war. Im Gefolge der israelischen Staatsgründung bedeutet dies andererseits und zuletzt, die Frage nach dem neuen Charakter jüdischer Diasporapolitik im Zeitalter eines souveränen jüdischen Staates zu stellen.